Der Grenzverrücker

Der Grenzverrücker lebt in einem Land – seinem Land – mit unbestimmbaren territorialen Grenzen. Es ist noch nie vermessen worden und auch auf keiner Karte wurde es je eingezeichnet, sodass niemand weiß, wie groß es in Wahrheit ist und welche anderen Länder es als Nachbarn hat. Er ist weder Herrscher noch Bewohner dieses Landes; manche sagen, er sei lediglich dessen Verwalter oder Vorsteher, der die Grenzen ausweitet und zusammenzieht, wie er es für nötig hält. Die Geschichte ist an diesem Land spurlos vorübergegangen, nur der Grenzverrücker ist die einzige Konstante geblieben und nur er weiß, wann und von wem es gegründet wurde, doch er schweigt zu allen, die ihn mit Fragen belästigen. Denn sollte sich herausstellen, dass Kinder oder Kindeskinder von diesen Gründungsvätern am Leben wären, könnte jemand schnell daherkommen, Besitzansprüche geltend machen und ihn von seiner Position verdrängen, die nur er allein ausfüllen kann.

Wenn sich Menschen in das Land des Grenzverrückers verirren, bleiben sie dort nur für eine kurze Zeit, ehe sie weiterziehen. Denn schon am nächsten Tag kann er eine Demarkationslinie gezogen haben, von ihnen unentdeckt, sodass sie plötzlich in einer völlig anderen Gegend aufwachen und dadurch zu illegal Eingereisten werden. Einige Mutige schließen Pachtverträge mit dem Grenzverrücker, da sie sich in seinem Land eine neue Existenz aufbauen möchten und sich auch durch die Gefahr eines unfreiwilligen Umzugs nicht abschrecken lassen. Aber da ihnen unklar ist, wo ihre eigenen Felder und Grundstücke enden und die des anderen beginnen, gibt es häufig Streit unter den Einwohnern, und oft wandern sie bereits nach wenigen Wochen wieder aus, da diese Unsicherheit ihnen den Schlaf raubt.

Im Verlaufe der Jahrhunderte hatte es etliche Versuche gegeben, das Land des Grenzverrückers zu annektieren. Allein niemand wusste, was genau zu annektieren war und wie man das Land nennen, welche Sprache man dort sprechen und mit welcher Währung man bezahlen soll, wenn seine Grenzen endlich gefunden waren. Später, als man von kriegerischer Aneignung absah, wurde eine von den Vereinten Nationen gegründete Experten-Kommission von Kartographen damit beauftragt, Satellitenaufnahmen und Fotos aus einem Flugzeug auszuwerten. Doch die Bilder erwiesen sich als unbrauchbar, da es zu keiner Einigung darüber kam, an welcher Stelle das Land in ein anderes überging und welche Gegend nicht mehr von ihm eingeschlossen wurde. Zuletzt war ein Forschungstrupp aus Geophysikern und Archäologen ausgesendet worden, der endgültig Klarheit in diese Angelegenheit bringen sollte. Aber als sie vor Ort waren, um das Territorium zu markieren, Gesteinsproben zu entnehmen und ihr Alter zu bestimmen, entzog es sich fortlaufend ihrer Beobachtung und den Messgeräten. Man erkannte schließlich, dass das Land erst dann auffindbar wird, wenn man nicht mehr danach sucht, und brach das Vorhaben ab, es jemals bestimmen zu wollen.

Mittlerweile hat das Land des Grenzverrückers sich als unabhängiger, selbstverwalteter Staat etabliert. Seine Grenzen verschieben sich noch immer scheinbar beliebig, doch keiner setzt mehr freiwillig einen Fuß auf seinen Boden oder versucht es zu verorten. Nach und nach schwindet somit das Interesse der Bevölkerung, sodass ganz langsam erste, feine Umrisse des Gebiets erkennbar werden, anhand derer man den Verlauf nachzeichnen kann. Doch es wird noch Jahrhunderte dauern, bis irgendwo ein vollständiges Bild des Landes entsteht, und sollte auch nur ein einziger Mensch auf die Idee kommen, jetzt sei der richtige Zeitpunkt gekommen, es endlich auszumessen – lässt der Grenzverrücker es bis ins Unendliche wachsen.

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