
Das Unglück des Empfindungsverlustigen ist es, in der Großstadt zu wohnen. Denn die Eindrücke und Wahrnehmungen sind dort so zahlreich, dass er, wenn er wieder zu Hause ist, sie allesamt in seiner Wohnung abladen muss, um sich zu erleichtern. Leuchtreklamen, Verkehrslärm, überfüllte Plattensiedlungen, Bauarbeiten, Motorengeräusche und Stimmengewirr verfolgen ihn bei seinen Spaziergängen und Ausflügen auf Schritt und Tritt, sodass er jeden Tag mit überfrachteten Bildern zur Tür hereinkommt. Überall stapeln sich diese Gedanken, nicht nur auf seinem Schreibtisch, sondern auch in der Badewanne, seinem Bett, auf der Fensterbank und sogar im Kühlschrank. Einige von ihnen trägt er nachts heimlich hinaus und wirft sie in die Müllcontainer, aber sofort plagt ihn das schlechte Gewissen, einen Teil von sich aussortiert zu haben, sodass er wenig später wieder hinunterschleicht und sie erneut in seiner Wohnung unterbringt.
Viel hat er bereits versucht, um die Flut an Reizen einzudämmen und weniger von seiner Umwelt wahrzunehmen. So ist er erst nur mit einem, dann mit einem halben, und schließlich mit gar keinem Auge, Ohr oder Nasenflügel zu seinen Ausflügen aufgebrochen. Doch diese Praktik hat er bereits nach kurzer Zeit aufgeben müssen, da er sich auf diese Weise durchs Leben hat tasten müssen und darüber verzweifelte, was er abseits der ganzen Störgeräusche alles verpasste. Daraufhin fing er an, einige seiner Eindrücke wieder nach draußen mitzunehmen und sie sorglos aus seiner Hosentasche irgendwo fallen zu lassen – im Park, am Bürgersteig, auf Spielplätzen oder in Kleingärten. So verstreute er nach und nach seinen Ballast in der Stadt, ohne, dass er ein schlechtes Gewissen hätte haben müssen. Sie waren ihm einfach aus der Tasche gefallen, rechtfertigte er sich dann vor sich selbst und war zufrieden über die sich leerende Wohnung.
Doch nicht selten werden ihm vermeintlich verlorene Eindrücke von einem gutmütigen Finder nachgetragen oder nach Hause gebracht, als handle es sich um eine vermisste Geldbörse. Der Empfindungsverlustige bedankt sich dann artig, doch das Bild – oder was es ist –, wieder in seinem Besitz, hat nun einen anderen Geruch angenommen, ist ihm plötzlich fremd, ist nicht mehr sein Bild. Verformt und verfälscht durch die Augen und Hände der Finder, fühlt er sich, als ob er ungebetene Gäste bei sich beherberge, die andere Lebensgewohnheiten pflegen, zu einer Uhrzeit aufstehen, zu der er selbst noch schläft, die morgens essen, was für den Abend gedacht war und in jedem Raum der Wohnung ihren Unrat hinterlassen. So hat er über die Jahre etliche dieser Waisenbilder aufgenommen und ihnen eine neue Heimat gegeben, und es mag der Tag kommen, an dem sie die Fremdheit ihres Gastwirtes nicht mehr ertragen und den Empfindungsverlustigen selbst vor die Tür setzen.