
„Passen Sie auf, wo Sie hintreten!“, rief der Reiseleiter. „Sie hätten beinahe einen Supermarkt zertrampelt.“
Vorsichtig zog Martin seinen Fuß über das Gebäude von der Größe eines Schuhkartons hinweg und setzte ihn auf einer freien Fläche neben dem Theater ab, drei Häuserblocks weiter.
„Es braucht nicht viel, nur ein paar Schritte, um eine ganze, hoch entwickelte Kultur auszulöschen“, fuhr der Leiter in ernstem Ton fort, während seine Reisegruppe sich zwischen Finanzdistrikt, Hafen und der Südstadt im Kreis aufstellte.
„Letzte Woche hatte es ein schweres Erdbeben gegeben, weil einem Kind sein Spielzeugauto aus der Hand gefallen war. Die Erschütterung musste meterweit zu spüren gewesen sein, und die Aufräumarbeiten werden noch sehr lange dauern.“
Martin sah an vielen Stellen Häuser und Autos zerstört, Straßenlaternen wie abgeknickte Streichhölzer baumeln, entwurzelte Bäume als ausgerissenes Unkraut vor sich liegen. Und überall liefen Menschen umher, kaum größer als der eigene Daumennagel, die versuchten, die Trümmerteile zu beseitigen.
„Können wir ihnen denn nicht helfen?“, fragte jemand aus der Gruppe. Es war Anja, die während der gesamten Führung in ständiger Entzückung über die „drollige Miniaturstadt“ gewesen war. Beim Anblick des Unglücks jedoch bemitleidete sie die Bewohner und wurde traurig. „Wir bräuchten nur wenige Minuten, und für diese Menschen hier wird es Wochen dauern. Ach, sie tun mir ja so leid, wie sie mit ihren kleinen Händen schuften müssen.“
Der Reiseleiter warf ihr einen bösen Blick zu und schüttelte den Kopf.
„Haben Sie das Schild am Eingang schon vergessen? Eingreifen verboten! Denken Sie nicht einmal daran. Alle Menschen sind für sich selbst verantwortlich. Genug davon, wir wollen weitergehen. Bei Sonnenuntergang hat man im Tal einen wunderbaren Blick. Aber achten Sie auf die Hochhäuser, die sind nämlich nicht so stabil, wie sie aussehen. Vor kurzem sind uns mehrere Stockwerke weggebrochen, weil ein älterer Herr sie als Stütze benutzen wollte.“
Sie erreichten das Tal, ohne größeren Schaden anzurichten, und ließen den Blick über die Landschaft schweifen, über die Felder, Wiesen und Flüsse, die sich zu ihren Füßen erstreckten. Das Meer – ein kleiner, angelegter Teich, von faustgroßen Steinen umzäunt, die ein Gebirge bildeten – lag funkelnd in der Abendsonne.
„Wie schön!“, sagte Anja. „Das sieht aus wie in echt.“
Martin zögerte. Der Unfall in der Stadt ging ihm nicht aus dem Kopf. „Glauben diese Menschen wirklich, dass sie von Natur umgeben sind? Dass das alles über Millionen von Jahren geformt wurde, und nicht innerhalb weniger Tage von Ihren Mitarbeitern?“
„Natürlich, wieso sollten sie es nicht glauben?“, antwortete der Reiseleiter, offenbar erstaunt über die Frage.
„Aber wie erklären sie sich, dass plötzlich ein Auto vom Himmel fällt? Oder dass Riesen durch die Stadt wandern und ihre Häuser zerstören? Das muss sie doch stutzig werden lassen.“
Der Reiseleiter lachte. „Dafür haben sie ganz einfache Erklärungen: Druckveränderungen in der Luft, klimatische Anpassungen, natürliche Wetterereignisse. Es handelt sich ja hier um eine weit entwickelte Spezies der Miniaturvölker, die nicht mehr an Götter oder so etwas glaubt. Alles, was ihnen zustößt, begründen sie ganz vernünftig. Während wir hier reden, erfinden die Menschen bereits eine Formel, um zu prognostizieren, wann das nächste Auto auf sie herabfällt. Aber ich kann Ihnen versprechen: Morgen werden wir uns eine archaische Kultur ansehen, die noch so etwas wie Glauben an eine Allmacht hat. Die letzten Überreste primitiver Miniaturvölker!“
Am nächsten Tag fuhr man mit dem Bus durch eine lange, öde Steppe, flimmernd vor Hitze und staubig vor Trockenheit, nur hier und da von ein paar Dornbüschen durchzogen, bis man schließlich eine Art Ausgrabungsstätte erreichte, davor ein schmales Häuschen mit der Aufschrift „Rezeption“. Bevor die Gruppe ausstieg, richtete der Reiseleiter einige Worte an sie. Es sei sehr wichtig, den Bewohnern nicht zu nahe zu kommen, betonte er. Mehr noch als in der Stadt sei jeglicher Kontakt mit ihnen strengstens untersagt, da es sich hier um ein von der Zivilisation unberührtes Dorf handle und man genauestens beobachten möchte, wie diese Menschen sich entwickeln und wie sie Stufe um Stufe die kulturelle Leiter erklimmen.
„Denken Sie daran, dass dies ein barbarisches Völkchen mit sehr einfachen Lebensvorstellungen ist. Tun Sie nichts, was sie aufschrecken könnte, und bleiben Sie hinter der Absperrung. Sie können sich vorne am Empfang Ferngläser leihen. Und wenn wir Glück haben, gibt es heute sogar eine Opferung. Die sind immer recht nett anzuschauen.“
Kurz darauf beobachteten die Reisenden aus der Ferne die ausgehobene Grube, sahen darin Lehmhütten mit Dächern aus Stroh, Kochstellen, eine Art Tempel, und dazwischen die Bewohner, die behäbig in ihrem Dorf umherwanderten. Einige aus der Gruppe stellten sich auf einen Hügel oder einen Stein, um besser sehen zu können, während der Reiseleiter Geschichte und kulturelle Errungenschaften – das Rad, die Schrift, den Faustkeil – des Volks entlang der menschlichen Entwicklungslinie beschrieb und erklärte, dass es noch sehr lange dauern würde, bis es so etwas wie einen technischen Fortschritt gäbe.
Martin wanderte von links nach rechts, um über die vielen Köpfe hinwegzusehen, und ärgerte sich, dass er einen solch großen Abstand zum archaischen Volk einhalten musste. Er hatte gehofft, aus erster Hand mehr über ihren Glauben zu erfahren, als es die schalen Worten des Reiseleiters vermochten, der bloß auswendig nachplapperte, was man in jedem Touristenführer lesen konnte.
„Wie spannend das alles ist!“, rief Anja, die durch ihr Fernglas dabei zusah, wie einige Dorfbewohner um einen brodelnden Kessel herum saßen und Holzscheite auf das Feuer legten.
Nach einiger Zeit verkündete der Reiseleiter, dass man zu einer zweiten Ausgrabungsstelle weitergehen würde, die Heimat eines längst untergegangenen Stammes gewesen sein soll. Martin wollte von diesen Ausgestorbenen nichts wissen und hielt sich am Ende der Gruppe auf, bis sie weiterzog und außer Sichtweite war. Dann suchte er einen Weg, um näher an die Grube heranzukommen, und fand an einer Seite schließlich einen schmalen Vorsprung.
Von dort beobachtete er das Treiben in dem Dorf und wartete auf das Erscheinen eines Geistlichen, eines Schamanen oder Priesters, die etwas von ihrer religiösen Praxis preisgeben würden. Doch außer ein paar häuslichen Arbeiten und Würfelspielen war nichts zu sehen, was ihren Glauben hätte erkennbar machen können. Da wurde er plötzlich, ein wenig abseits des Dorfs, an dem steilen Hang eines Berges, auf etwas aufmerksam. Ein Mann lag eingeklemmt zwischen zwei Felsen, vor ihm war ein Junge, vielleicht sein Sohn, der vergeblich versuchte, den Vater zu befreien und den schweren Felsbrocken beiseite zu schieben. Bestürzt sah Martin, wie der Junge sich immer wieder gegen den Stein wuchtete und sich dabei nach Hilfe umsah, die etliche Meter weit entfernt in ihrem Dorf lag. Nach einigem Zögern und der Vergewisserung, dass seine Gruppe noch an der anderen Ausgrabungsstelle weilte, sprang Martin über die hüfthohe Absperrung hinweg und lief rasch an den Ort des Unglücks. Mit zwei Fingern hob er den erbsengroßen Stein an und warf ihn von sich. Doch kaum, dass der Mann befreit war, schmiss er sich gemeinsam mit seinem Jungen in den Staub, und beide begannen Martin anzubeten wie eine Gottheit, rissen die Arme in die Luft und priesen ihren Retter, der bereits wieder über die Absperrung kletterte und zu seiner Reisegruppe zurückkehrte.
Als die Führung beendet war und man Gelegenheit bekam, das archaische Volk ein weiteres Mal zu besuchen, stieß Anja einen lauten Schrei aus, der alle aufschrecken ließ:
„Seht nur, das Dorf! Es brennt!“
Sämtliche Ferngläser gingen in die Höhe, durch die schwarzer Rauch zu erkennen war, der von den in Brand stehenden Hütten und dem Tempel aufzog. Es kam zu grausamen Szenen unter den Bewohnern, zu Plünderungen und Feueropfern auf dem Altar.
Der Reiseleiter beobachtete das Geschehen eine Weile ganz still.
„Unfassbar“, murmelte er, „es scheint, dass sie den Glauben an ihre Götter verloren haben und ihrer alten Religion den Rücken kehren. Das hätte nicht passieren dürfen, jedenfalls nicht so früh. Entweder hat dieses Volk soeben mehrere tausend Jahre kultureller Evolution übersprungen, oder es ist bereits viel weiter in ihrer Entwicklung, als wir geglaubt haben.“
Martin saß schon im Bus, als die anderen Reisenden einstiegen, und blickte mit einem engen Gefühl in der Brust hinaus in die Steppe, wo die Sonne unterging und die Berge lange Schatten warfen.
Nur wenige Stunden später dachte niemand mehr an den Glaubenskrieg im Dorf, denn auf der Rückfahrt war es zu einem schweren Unfall gekommen. Der Bus der Reisegruppe hatte sich dabei mehrfach überschlagen und war in einen Graben gestürzt. Die hinzugerufene Polizei stellte nach der Untersuchung des Fahrzeugs fest, dass sowohl ein Vorder- als auch ein Hinterreifen ohne Fremdeinwirkung zeitgleich geplatzt waren. Und da das Material keine Verschleißspuren aufwies, war man ratlos über die genaue Ursache des Unfalls. Die Reisegruppe samt ihres Leiters kam indes mit dem Schrecken davon: Wie durch ein Wunder wurde bei dem Unglück niemand verletzt.