Die Zeit und die Träume

„Es ist Zeit, Abschied zu nehmen“, sagte Ida und strich Hanno sanft über die Schulter, während sie sich zum Gehen anschickte. „Wir rufen dich, sobald wir abgeholt werden.“
Ida schloss die Tür und ließ Hanno allein in seinem Zimmer. Vier Wochen war es ihm zur Heimat geworden. Vier endlos lange Wochen, in denen er jeden Tag bei Morgengrauen erwacht und, um nichts von den kostbaren Stunden zu versäumen, sogleich nach unten in den Frühstücksraum gelaufen war, wo er Ei und Brot in sich hineingeschaufelt hatte, um danach so schnell wie nur möglich an den Strand zu gelangen. Vorbei diese Morgenstunden, vorbei der Urlaub, endgültig. Zeit, sich von Travemünde zu verabschieden, für ein volles Jahr, bis man im nächsten Sommer erneut mit der Familie in dieses Hotel und dieses Zimmer absteigen würde.
Hanno atmete den Geruch dieser vier Wochen samt aller daran hängenden Erinnerungen noch einmal ein, warf sich ein letztes Mal auf das Bett, schaute, den Kopf tief ins Kissen gedrückt, zur Decke empor und lächelte.
Abschied?, dachte er. Hatte er den Dingen in den letzten Wochen nicht längst ihre Zeitlichkeit genommen, sie durch das ewige An- und Beschauen aus ihrer Stummheit gerissen und ihnen ein neues Zuhause gegeben? Eines, das sie ihm stets verfügbar machte, nämlich in seinen Erinnerungen? Wie konnte er Abschied nehmen, wo doch alles, was ihm während seines Aufenthaltes lieb und teuer geworden war, in ihm weiterlebte?
Da war zum Beispiel der Eisverkäufer am Strand, dessen Namen er nicht kannte, aber der seinen schon von Weitem rief, sobald Hanno sich mit seinem Matrosenjäckchen dem kleinen Eisstand näherte. Und obwohl die Gicht an seinen Händen bereits ihre mühsame Arbeit verrichtete, hinderte es ihn nicht daran, mit präzisen Bewegungen eine weitere Kugel Eis auf der Waffel zu balancieren und sie Hanno über die Auslage zu reichen. Bedauerte er es, sich nicht von ihm verabschiedet zu haben? Nein, der namenlose Eismann mit seinem schwarzen Schnurrbart würde ihm auch nach seiner Abreise noch klar vor Augen stehen, die Erinnerung an ihn und seine Gaben nicht verblassen.
Da waren auch die Kellner im Hotel, die in ihren dunklen Anzügen und Krawatten so hoheitsvoll über Gedecke und Mobiliar verfügten. Hanno hatte sie manchmal von weitem beobachtet, wenn sie draußen auf der Terrasse um die Tische surrten und schwirrten wie Monde um einen Planeten, und er stellte sich vor, wie sie ihre Bewegungen — das Abräumen der Teller, das Falten der Servietten, das Nachfüllen des Kaffees — auf ewig und ewig ausübten, jeglicher Zeit enthoben wie auch die Himmelskörper, und so sah er sie auch, als unvergänglich und unsterblich.
Oh, der Himmel über Travemünde! Auch ihm hätte er ade sagen müssen, wäre auch nur ein Funken Wehmut über ihn gekommen bei seinem Anblick. Wie gut es tat, einfach so aus dem Fenster zu sehen und ihn betrachten zu dürfen, ohne Bitterkeit und Sehnsucht. An diesem Tag waren es dicke Quellwolken, die über die Stadt hinwegzogen und sich in der Ferne, weit außerhalb des Sichtfeldes, zu einer dunklen Masse auffächerten, aus denen irgendwo — aber nicht hier — bald Regen fiel; die Zugvögel, die eine Schneise überm Horizont bildeten und sich mit jedem Lidschlag weiter von ihm und seinem Urlaubsort entfernten, als seien sie Verbündete in Hannos Aufbruch und versuchten ihm Trost zu spenden, dessen er nicht bedürftig war; der aufbrausende Wind, der mal spielerisch, mal ernst durch die offenen Fenster und Türen der Wohnung fegte und den Wetterfahnen auf den umliegenden Dächern Leben einhauchte. So vertraut war alles, so eng mit Hannos Herz verwoben, dass er jeden Moment, jedes Bild und jede Form mit sich tragen würde, wenn er längst wieder auf der Schulbank saß.
Noch viele Stunden waren es bis nach Hause, bis zur endgültigen Wiederkehr, sodass genügend Zeit blieb, sich ein Andenken zu bewahren. Nein, er selbst bedurfte keines Andenkens, es war das Zimmer, das sich an ihn erinnern sollte während seiner einjährigen Abwesenheit. Er sprang vom Bett auf und suchte in seinem Koffer. Fundstücke aller Art fielen ihm in die Hände, vom Strand und seinen Ausflügen in die Stadt, bis er einen harten, spitzen Gegenstand ertastete, in ihm den Tannenzapfen erkannte, den er am Vortag bei einem Spaziergang vom Feldweg aufgesammelt hatte, und ihn in der Kommode neben seinem Bett verstaute. Hier würde ihm die Zeit nichts anhaben, Hanno ihn in einem Jahr an Ort und Stelle unangetastet wiederfinden, aufnahmebereit für neue Erinnerungen.
Ein Jahr, dachte Hanno. Was würde in diesem Jahr alles in Travemünde passieren? Die Gicht fiele die Hände des Eisverkäufers noch weiter an, vielleicht fände er bei seiner Rückkehr sogar ein paar graue Haare in dessen Schnurrbart. Die Kellner räumten in dieser Zeit abertausende von Tellern ab, falteten kilometerlang Servietten und schenkten so viel Kaffee aus, dass man hunderte Badewannen damit füllen könnte.
Hanno betrachtete sein stacheliges Andenken in der Schublade.
Du wirst hier brav liegen und ein Jahr auf mich warten, Zapfen, hörst du? Was, du sagst, das sei eine endlos lange Zeit? Warte nur ab, wie schnell ein Jahr vergehen kann! Kaum sperre ich dich weg, nehme ich dich auch schon wieder auf und erzähle dir, wo ich überall gewesen bin, wen ich getroffen habe und wie es den Kameraden in der Schule ergeht. Alles werde ich dir erzählen, und dir wird es vorkommen, als seien bloß Stunden seit meiner Abwesenheit vergangen. Du glaubst mir nicht? Aber weißt du denn nicht, dass man nur die guten, die schönen und reinen Dinge im Herzen trägt, die schlechten, missratenen und unwohlseinverschaffenden hingegen herausfallen, als habe es sie nie gegeben? Und dass uns deshalb ein Jahr so kurz erscheint, weil diese schönen Momente so rar sind, dass derer fünf, sechs sofort griffbereit daliegen und wir sie mit einer Klarheit aufzählen können, als seien sie uns alle erst letzte Woche widerfahren? Genau so ist es, mein Freund, und darum wird das Jahr im Flug vergehen, das verspreche ich dir.
Pferdegetrappel und Stampfen auf dem Kies draußen vor dem Haus unterbrachen Hanno in seinen Gedankengängen. Eine Stimme ertönte von unten:
„Hanno, wir fahren, kommst du?“
Mit einem Knall fiel die Schublade zu, und Hanno, ohne sich noch einmal umzudrehen, riss seinen Reisekoffer vom Boden auf und sauste die Treppe hinab, wo Ida und Gerda ihre Abschiedsgrüße vom Wirtsehepaar entgegennahmen. Es wurde sich mehrmals gedrückt und umarmt, als wolle man mit jeder Berührung auch Travemünde noch ein wenig länger bei sich behalten, aber schließlich gingen sie beide doch zur Tür hinaus und waren ganz erstaunt, Hanno bereits oben auf dem Kutschbock zu finden, sein Koffer achtlos in den Innenraum des Gefährts geschleudert.
„Aber Hanno, möchtest du dich denn gar nicht von unseren Gastgebern verabschieden?“, fragte Ida, während sie einen Fuß auf das Trittbrett setzte.
Da sprang Hanno von der Droschke, als hätte er etwas äußerst Wichtiges vergessen, schnellte zurück zum Hotel, um einen gar zu tiefen Knicks vor den Herrschaften zu machen und sich für die wohltuenden Wochen zu bedanken, bevor er mit einem Satz wieder auf seinem angestammten Sitzplatz war.
„Ja ja“, sagte Gerda, als die Kutsche sich in Bewegung setzte und sie und Ida aus dem Fenster ein letztes Mal zum Abschied winkten. „Der Junge macht es richtig. Schnell und schmerzlos muss es sein, wie ein Pflaster, das man abreißt. Dann wird man auch nicht wehmütig!“
Ida nickte, setzte nach einer kurzen Pause jedoch kummervoll hinzu: „Aber er wird schon noch Fernweh bekommen, der Arme. Spätestens, wenn er wieder in der Schule ist und an die vier Wochen zurückdenkt.“
Die letzten Worte sprach sie, als redete sie von etwas längst Vergangenem.

Erschienen in der Zeitschrift „Dichtungsring“ #68

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