
Im flachsten Abschnitt der patagonischen Steppe, die sich von den Anden bis zur Atlantikküste erstreckt, liegt irgendwo zwischen den Provinzen Río Negro und Chubut eine kaum sichtbare Muldensiedlung, gebaut von einem Volk, das die Ebenerdigen genannt wird. Umpeitscht von heftigen Windstürmen, die der Umgebung ihr raues Antlitz verliehen haben, stehen dort mittlerweile nur noch einige weit voneinander entfernte Häuser, die einem Reisenden – sollte er sich an diesen Ort verirren – wie in die Steppe hineingesprengte Silos erscheinen. Zwischen ihren Leerräumen ist die endlose Karglandschaft dahinter ständig sichtbar, doch die hochaufragenden Berggipfel, die Wachtürme aus den Anden, sind hier schon nicht mehr zu sehen. Denn die Siedlung liegt so flach, ist in einer solch tiefen Ausbuchtung erbaut worden, dass sie jegliche Anhöhe um sie herum verschluckt. Und auch die für die Gegend typischen Steppengräser und Dornengewächse sind verschwunden (oder haben hier einfach nie existiert). Stattdessen nur Geröllfelder wie von abgetragenen Felsen, bestehend aus rötlich-braunem bis schwarzem Vulkangestein, an den Rändern weißlich schimmernd, die die scharfen, würzigen Kräutergerüche der Vorebene neutralisieren.
Es gibt einige Beobachtungen von Reisenden, die versucht haben, anthropologische Kenntnisse über die Ebenerdigen zu sammeln. So wurden Kinder, als noch welche geboren wurden, vom Ältesten der Siedlung vermessen, und war eines unter ihnen länger und schwerer als der größte ihnen bekannte Stein, so wurde es weggesperrt und gesundgeschrumpft. Zu ihren mittlerweile vergessenen Göttern beteten sie in Tempeln, die in tiefen Schächten und Aushöhlungen lagen, sodass man bis in die Erde hineinkriechen musste, um sie zu verehren (und manch einer daraufhin den Weg nicht mehr zurückfand). Und nicht nur Kinder und Götter, sondern auch ihre Kommunikationsformen sind ihnen abhandengekommen. Sie kennen jetzt nur noch einen einzigen Brummlaut, der immer in derselben Frequenz ertönt, und als sie noch die Schrift beherrschten, war jeder Buchstabe stets gleich lang, hoch und breit, sodass ihre Texte aus den immer selben gepunkteten Formen bestanden, die von Fremden – und vielleicht auch von ihnen selbst – nicht zu entziffern waren.
Nähert man sich nun den verbliebenen Häusern der Siedlung, dann erkennt man, dass viele von ihnen bis unter den Giebel im Erdboden versunken sind, Dach und Schornstein soeben zwischen den Steinen hervorgucken. Wenige stehen noch aufrecht da, andere sind in schiefem Winkel kurz davor einzusacken oder in sich zusammenzufallen. Klopft ein Reisender auf der Suche nach Beherbergung an einer solchen Unterkunft – und hat das Glück, dass der tosende Wind ihn nicht davonweht –, öffnen untersetzte Kreaturen ihm scheu die Tür, den Kopf dabei beständig starr nach unten gebeugt, als seien sie auf der Suche nach etwas Verlorengegangenem. Sowohl ihr Alter als auch ihre Miene bleiben dadurch all jenen verborgen, die sie von oben herab betrachten, sodass nicht zu entscheiden ist, ob Freude, Überraschung oder Zorn auf ihren Gesichtern liegt. Sie müssen einen ausgezeichneten Geruchssinn haben, denn sogleich wittern sie, ob der Fremde ihnen wohlgesinnt ist, brummen dann einmal kräftig und lassen ihn eintreten, denn sie wissen um die Gefährlichkeit der Sturmebene, in der sie wohnen.
So leer und flach wie die Landschaft sind auch die Häuser der Ebenerdigen eingerichtet. Es gibt hier nichts zu sehen, außer einem von einer dicken Steinschicht bedeckten Fußboden, in den überall konzentrische Kreise jeglicher Größe eingezeichnet sind. Diese Muster sind ihnen heilig, sodass sie streng darauf bedacht sind, sie nicht zu berühren. Man sieht sie dann – ein ungewöhnlicher Anblick für ihre Statur und Körperhaltung – leichtfüßig im Haus umhertänzeln, ihre Steinkreise sorgfältig umgehend. Denn alles, was ihnen zu Füßen liegt, ob Bodenschichten, Sedimente oder Fossilien, sind Reliquien, zurückgelassen von ihren Ahnen, die vor vielen Generationen diese Siedlung bewohnten. Wie die Jahrringe von Bäumen kommt nach einer gewissen Zeit an mancher Stelle ein weiterer Kreis hinzu, der einen neuen Lebensabschnitt der Ebenerdigen markiert. Wochen, Monate oder Jahre sind für das Volk jedoch bedeutungslos, stattdessen orientieren sie sich an den Zyklen der Natur. Ein neuer Kreis kann so bedeuten: „Dort, wo sich einst eine vielarmige Flusssenke in die Erde grub und jetzt nur Sedimentgestein zu sehen ist“, oder: „Die Stelle, an der ein dunkelgrünes Moosbett in einer Mulde lag und die heute von Schafgarben und Präriegräsern überwuchert ist.“
Ist ein Ebenerdiger alt und hat so viele Veränderungen miterlebt, dass die Kreise in seinem Haus sich allesamt beinahe berühren, legt er sich flach auf den Boden, bedeckt sich bis zum Scheitel mit Steinen und wartet. Dann beginnt nämlich das Ritual, auf das ein jeder von ihnen sich sein Leben lang vorbereitet hat: Langsam, Stück für Stück, sinkt das Haus hinab in die Tiefe, bis es vollständig unter der Erde liegt und den Ebenerdigen begraben hat. Bis der letzte Kreis sich schneidet, können hunderte von Jahren vergehen, in denen die Landschaft sich verändert oder abstirbt. Mancher Reisende, den es erneut in die Gegend verschlägt, sieht so am Ende seines Lebens das Haus, in dem er einst als Jüngling Unterschlupf gefunden hatte, metertief in der Erde stecken, und seine Nachkommen werden nur noch den Dachfirst erkennen können, bevor es endgültig verschwunden ist. So wird irgendwann, wenn der Jüngste der Ebenerdigen alt genug ist, auch der Letzte ihres Volkes untergehen und eins sein mit dem Boden. Ihre Geschichte ist dann tief in den Steinschichten verborgen, und nur wer gräbt und gräbt und gräbt wird schließlich Spuren von ihnen finden.