
Zu Hause ist es doch am schönsten. So war es schon immer, so steht es geschrieben. Irgendwo steht es sicherlich. In einer alten Tageszeitung, auf einem Wandkalender mit hübschen, nachdenklich stimmenden Lebensweisheiten oder auf dem Grabstein einer namhaften Persönlichkeit. Denn aus dem Nichts kommt dieser Spruch nicht, wusste Herr Kienast und wenn es irgendwo steht, dann muss es wahr sein, denn Worte lügen nicht. Diese Gewissheit hatte für ihn etwas Beruhigendes, eine Tatsache, auf die man sich verlassen konnte, auf vieles kann man sich heutzutage überhaupt nicht mehr verlassen, aber darauf ganz gewiss. Nun las Herr Kienast an diesem Morgen jedoch einen Artikel in der Zeitung, in dem wahrhaft stand – und er musste ihn zweimal lesen, das tat er sonst nie – dass es zu Hause nicht am schönsten sei, sondern draußen, in der Natur, während eines Spaziergangs oder einer Wanderung und Herr Kienast fand diese Behauptung ungeheuerlich.
„Wie kann es sein“, fragte er sich, „dass es hier heißt, zu Hause sei es nicht am schönsten, wenn es dort heißt, zu Hause sei es eben doch am schönsten?“
Das war für ihn unvereinbar, eine Erschütterung seines ansonsten so stabilen Weltbildes, eine Gemeinheit sondergleichen. Er war sich seiner Sache so sicher, hatte ein so erfülltes Leben geführt, das alles soll umsonst gewesen sein? Die Zeitung wanderte in den Müll, Herr Kienast in seiner Wohnung umher. Er überlegte.
„Wenn es draußen, in der Natur, im Freien, wie es im Volksmund ja heißt, tatsächlich am schönsten ist, so wie es dieser unverschämte Artikel behauptet, dann muss dieser Behauptung auf den Grund gegangen werden, es muss erforscht werden, denn sonst könnte ja jeder Dahergelaufene irgendwelche Dinge behaupten und niemand wüsste mehr, was nun stimmt und was nicht!“
Er holte seinen angestaubten Filzhut aus dem Schrank und klopfte ihn einige Male aus, zog sein zweitbestes Sakko an, das er für besondere Anlässe stets gebügelt hielt, suchte einen Spazierstock, blieb dabei erfolglos, putzte seine Schuhe ordentlich, besah sich ein letztes Mal im Spiegel und trat kühn zur Tür hinaus.
Die ersten Schritte, sie waren ein wenig unsicher, die Schuhe an ihre Freiheit nicht gewöhnt und erst als Herr Kienast einige Meter zurückgelegt hatte, fiel ihm ein, dass er, der sonst so Gewissenhafte, der immer vorausschauend Planende und nichts dem Zufall Überlassende, dass er ohne Ziel und ohne Ahnung, wohin es ihn an diesem Tag verschlagen würde, einfach so, als wenn es das Normalste der Welt wäre, zur Tür hinausspaziert war. Ein Gefühl des Unwohlseins überkam ihn, doch zurückgehen konnte er nicht, jetzt war es zu spät, der Jungfernflug im vollen Gange, was würden die Leute denken, wenn er einfach so umdrehen und sich zurück in seine Wohnung trollen würde? Also ging er weiter.
Es dauerte nicht lang und sein Gang wurde bestimmter, die Bewegungen flüssiger, sodass er seine Selbstaufmerksamkeit ablegen und in aller Ruhe die Dinge bestaunen konnte, die sich vor ihm ausbreiteten. Es war nicht neu, was er sah, ganz und gar nicht, hatte er doch alles bereits in der Zeitung gelesen, doch mit welch ungezwungener Leichtigkeit sich die Gegenstände ihm hier präsentierten, sich vor ihm aufbauten und ihn mit ihrem jeweils eigenen Gravitationsfeld in ihren Bann zogen, aus dem er sich nur schwerlich wieder lösen konnte, bevor er in das nächste hineingeriet, fand er hochgradig erstaunlich. Sein Körper schien sich nach allen Seiten hin auszudehnen, als müsse er jeden Gegenstand in sich aufnehmen: Jede einzelne der im satten Grün erstrahlenden Hecken, jedes noch so winzige Blatt der unzähligen, am Straßenrand aufgepflanzten Bäume, jedes dort im Baumwipfel sich tummelnde Insekt und jeden einzelnen der Sonnenstrahlen, die die sich kaleidoskopartig auffächernden und in allen erdenklichen Farben leuchtenden Blumen am Wegesrand und in den Gärten der an ihm vorbeiziehenden Häuser kräftig zum Blühen brachten. Er ermahnte sich zur Vernunft.
„Ja ja, es gefällt mir durchaus, was ich hier sehe, alles sehr reizend, alles ganz nett, aber zu Hause ist es eben doch am schönsten“, dachte er sich und war vergnügt ob seines Scharfsinns. Er spazierte weiter.
Er kam an einem Café vorbei, wo einige Sonnenschirme aufgespannt waren, die den sich darunter in gemütlichen Korbsesseln lümmelnden Menschen Schatten spendeten. Zwei ältere Damen saßen an einem reich gedeckten Tisch, gebeugt über ein halbes Frühstücksei, zwei Tassen Kaffee, Aufstrich und Buttercroissants, das von einer der beiden Damen kräftig mit Erdbeermarmelade bepinselt wurde, bevor sie herzhaft hineinbiss. Herr Kienast beobachtete dieses Schauspiel genauestens und kam nicht umhin, seine Begeisterung auf der Stelle zum Ausdruck zu bringen.
„Meine Dame, ich darf Ihnen sagen, ich habe selten gesehen, wie ein Buttercroissant auf so herrliche, geradezu göttliche Weise mit Marmelade ausstaffiert worden ist. Sie sind eine wahre Künstlerin! Wie sie es schaffen, ein schnödes Stück Teig in ein Werk zu verwandeln, das selbst einen Chardin, einen Manet die Schamesröte ins Gesicht treiben würde, ist ein Naturspektakel sondergleichen! Hielten Sie noch einen Moment inne, würden den Verzehr dieses köstlichen Gebäcks ein Stückchen weiter hinauszögern – was natürlich gänzlich unmöglich ist, da ich bis hierher riechen kann, wie gut es duftet –, ich riefe sofort die Tageszeitung her und ließe alles und jeden teilhaben an diesem Ereignis, über das ich dankbar bin, es mit eigenen Augen gesehen haben zu dürfen.“
Er verbeugte sich tief, zog artig seinen Hut zur Verabschiedung und noch bevor eine der Damen antworten konnte, war er auch schon fort. Auch jetzt versuchte er seinen Überschwang in Grenzen zu halten.
„Sehr höflich diese zwei Damen, schön und ansehnlich und ihr Croissant erst! Aber zu Hause ist es eben doch ein bisschen schöner.“
Entzückt über seine eigene Gescheitheit spazierte er weiter.
Kurze Zeit darauf kam er an eine Weggabelung, an der er sich für den Pfad zu seiner Linken entschied. Wieso, wusste er nicht. Er tat es einfach. Einen Plan hatte er ja nicht, also konnte er tun und lassen, was er wollte. Sein Spaziergang führte durch den Wald, über Wiesen und weitläufige Felder, vorbei an Flüssen und Seen, an heruntergekommenen Mühlen und geschäftigen Bauernhöfen, an großen Maschinen, die die Äcker bearbeiteten und als er genug davon sah, kehrte er wieder um, denn die Sonne ging bald unter.
Seine Nachbarn rieben sich verwundert die Augen, als sie Herrn Kienast abends bei dessen Rückkehr draußen fröhlich umherspazieren sahen, als ob er nie etwas anderes gemacht hätte, steckten ihre Köpfe zusammen und tuschelten.
„Ja, darf man das so einfach? Hinausgehen und den ganzen Tag spazieren? Ist das denn erlaubt?“
Es war erlaubt und Herr Kienast machte das erste Mal seit langer Zeit von seinem Recht wieder Gebrauch.
Er schlief äußerst gerecht in dieser Nacht und als er am nächsten Tag erwachte und wie gewohnt frühmorgens seine Tageszeitung aus dem Briefkasten holte, die erste Seite aufschlug, um zu sehen, welche Behauptungen heute wieder aufgestellt worden waren, musste er nicht nur zweimal, sondern ganze dreimal lesen, was dort geschrieben stand. Ein Mann, der verblüffende Ähnlichkeit mit seiner eigenen Person hatte, trug laut Zeitungsartikel Hut, gebügeltes Sakko und ging ohne Spazierstock aus dem Haus, einfach so, ohne sich vorher über Gelingen oder Nichtgelingen des Vorhabens Gedanken zu machen und genoss seinen Spaziergang. Dieser Mann, hieß es weiter, sei zu dem Schluss gekommen, dass es zu Hause zwar schön, doch draußen noch ein wenig schöner sei. So stand es dort und Herr Kienast war froh, dass es dort so stand, denn es war die Wahrheit.
Erschienen in der Zeitschrift „Dichtungsring“ #58