An still verschwundenen Orten – Traumflimmern

„Nirgends bin ich gewesen, wohin nicht der Name mich zog.“
Elias Canetti

„Es ist mir wirklich auch jetzt nicht etwa zumute, als wenn ich die Sachen zum erstenmal sähe, sondern als ob ich sie wiedersähe.“
Johann Wolfgang von Goethe

1

Es war ein fahler, fast lichtloser Tag im September, als hielte jemand ein Stück Papier gegen die Sonne. Dunkle Wolkenfetzen kauerten eng beieinander und zogen eilig über den grauen Himmel hinweg, hier und da fielen ein paar erste Regentropfen, das Gewitter von anderswo kam näher. Der Sommer hatte in den vergangenen Tagen seine zarten Ranken noch einmal ausgestreckt und die Menschen vor ihre Häuser und in die Eisdielen und Freibäder gelockt, als wolle er Unordnung in den angebrochenen Herbstanfang bringen, der schon die ersten herabfallenden Blätter zeitigte. Auf das überraschende Hoch folgte allerdings ein umso betrüblicheres Tief: Der anschließende rasche Temperatursturz ließ die wiederbelebten Plätze erneut vereinsamen, die Gartenmöbel wurde eingeräumt und endgültig im Keller verstaut, die Markisen ein letztes Mal eingefahren. Man verharrte zu Hause, innerlich zerrissen, ob der Herbst nun ganz und gar einzöge, mit seinen stürmischen, regendurchschauerten Tagen und man Sommerkleid und Kurzarmhemd gegen Regenjacke und Pullover eintauschen müsse, oder ob die warme Jahreszeit ihr letztes Wort vielleicht noch nicht gesprochen hatte.

Doch in all die Unglückseligkeit fiele nach und nach ein leiser Hoffnungsschimmer. Denn der Herbst brachte nicht nur graue Eintönigkeit hervor, sondern auch die Farbpracht der Bäume und ihr buntes, nach Erde und Moos duftendes Laub. Anstelle des Treibens an Seen und Stränden würde man die Geschäftigkeit der Bauern bei der Ernte beobachten können, die mit ihren Traktoren die goldgelben Kornfelder durchstreiften. Statt süß-fruchtiger Wassermelone gäbe es Kürbissuppe und Eintöpfe zu verkosten, und das gemütliche Sitzen vor dem Kamin stellte einen angenehmen Gegensatz zu den tropischen Temperaturen des Hochsommers dar. Dieser Bilderbuch-Herbst wäre kein unwillkommener Gast mehr, wenn er es sich erst einmal häuslich eingerichtet hätte. An diesem Tag schien er jedoch in weite Ferne gerückt, und ein jeder blickte aus seinem Fenster und sah denselben, vor Grau erstarrten Himmel und die dunklen Gewitterwolken, aus denen leichter Regen an die Scheiben klopfte. Man befand sich am Übergang von einer Jahreszeit in die nächste, in einer Phase des „Noch-nicht-ganz“, der unsicheren folgenden Schritte, die so oder auch ganz anders verlaufen könnten, und was die einen an dieser Unklarheit zuversichtlich stimmte, trieb die anderen in die Verzweiflung.

Das ferne Gewitter riss Martin aus seinem Halbschlaf. Es war ein ruckartiges Erwachen, die Nachbilder des undeutlichen Traums flimmerten noch vor seinen Augen und setzten sich für eine Weile dort fest. Er musste dabei unweigerlich an die „Einbrenngefahr“ mancher Fernsehgeräte denken, die nach der Darstellung statischer Elemente über einen zu langen Zeitraum Geisterbilder hinterließen. Ein Freund von ihm war damals einer der ersten gewesen, der sich einen der neu auf dem Markt erschienenen Plasmafernseher gekauft hatte, die bekannt waren für ihre ausgezeichnete Bildqualität. Als Martin bei ihm zu Besuch war, wunderte er sich über die über den halben Bildschirm laufenden, parallel zueinander stehenden Schattengeraden, die nach oben hin konvergierten (sich aber nicht kreuzten) und sich auf jedem Sender und sogar bei ausgeschaltetem Bildschirm zeigten. Es stellte sich heraus, dass sein Freund – ob aus Ironie oder echtem Interesse war Martin nicht ganz klar – gewohnheitsmäßiger Zuschauer der nachmitternächtlichen Sendung Die schönsten Bahnstrecken Deutschlands war, die unkommentierte Führerstandsmitfahrten aus Sicht des Lokführers zeigte und über mehrere Stunden hinweg ohne Schwenks oder Perspektivwechsel auskam. Der Schienenstrang, auf dem der Zug sich bewegte, blieb bei den Aufnahmen die einzige Konstante und brannte sich schließlich in die Mitte des Fernsehers ein, sodass fortlaufende, ins Nichts führende Gleise die Hälfte des Bildschirms einnahmen. Angeblich konnte man die Schlieren, wenn sie noch nicht zu stark waren, wieder entfernen oder zumindest ein wenig abschwächen, hatte Martin einmal gelesen. Doch so lange er seinen Freund kannte, machte dieser keine Anstalten sie loszuwerden. Nach einiger Zeit waren sie für ihn nicht nur ein Teil, sondern das Bild an sich, und als der Fernseher eines Tages den Geist aufgab, kaufte er sich auch keinen neuen.

Martin dachte zurück an seinen Traum. Aber da war nichts mehr, an das er sich erinnern konnte. Auch kein Flimmern mehr zu sehen, die Schattenbilder schon wieder überlagert von den Aufnahmen des Felsmassivs „El Capitan“ aus dem Yosemite-Nationalpark, die ihm Anfang der Woche von seinem derzeitigen Auftraggeber per Mail zugeschickt worden waren. Man hatte ihn über die Plattform Fiverr kontaktiert, auf der Freelancer wie Martin ihre Dienste anboten und die seit vielen Jahren seine einzige Einnahmequelle darstellte. Sein neuer Kunde verwaltete die Website deine-traumreisen.de, die mit „authentischen Reiseberichten von Travelern für Traveler“ warb. Martin sollte einen „mitreißenden, emotionalen Text mit viel Storytelling“ für sie schreiben, der die Besucher dazu animierte, selber Urlaub in Kalifornien zu machen. Er hatte noch nie einen Fuß in die USA gesetzt, kannte den El Capitan soeben vom Hintergrundbild seines Laptops, das nach einem Update des Betriebssystems ohne sein Zutun plötzlich auf dem Desktop erschienen war. Doch wie gewöhnlich würde er auch hier vorgehen wie für jeden seiner Aufträge: Blogs und Foren nach echten Erfahrungen und Eindrücken durchsuchen, sie abändern, miteinander vermischen, neue Dinge hinzuerfinden. So schreiben, als sei er selbst vor Ort gewesen. Seine Texte verliefen dabei immer nach dem gleichen Muster und waren aus der Sicht eines unbedarften Touristen verfasst, der das Licht der einfallenden Sonne auf der Bergspitze, den würzigen Geruch des Waldes oder die kühle Atmosphäre der sakralen Gebetsstätte stimmungsvoll erfasste und Lust auf die Gegend machte. Auf eine allzu genaue Beschreibung kam es dabei nicht an. Wichtig war allein, bei den Lesern eine Emotion auszulösen, eine persönliche Geschichte zu erzählen, mit der sie sich identifizieren konnten. Seine Reiseimpressionen der arktischen Tundra vor einigen Monaten erfolgten so etwa vor dem Hintergrund eines Mannes mittleren Alters, der gerade eine Midlife-Crisis durchmachte und als Backpacker in einer abgeschiedenen Iglu-Siedlung landete, wo er zwischen Eskimo-Schamanen und Kehlkopfgesängen ein spirituelles Erweckungserlebnis hatte. Der Bericht war tausendfach aufgerufen worden und hatte dazu geführt, dass er in der Folge in den ihm bekannten Online-Foren auf etliche Beiträge stieß, die von einer Reise an den nördlichen Polarkreis schwärmten. (Die auch nur abgeschrieben waren und die man wiederum abschreiben würde? So wie eine hundertfach kopierte Bilddatei irgendwann nur noch aus unerkennbarem Pixelbrei bestand?)

Doch am „El Capitan“, so schien es Martin, würde er scheitern. Nicht, weil er keine ausreichenden Informationen über ihn fand – im Gegenteil, er las dutzende Berichte von Urlaubern und Reisebloggern, die den Yosemite-Nationalpark besucht hatten und von ihren Eindrücken der erklommenen Felsformation berichteten. Aber zum ersten Mal empfand er so etwas wie Ekel, nicht nur vor den immer gleichen Beschreibungen des Steins im Internet, sondern auch (und vor allem) vor seiner Arbeit als Kopist. Er hatte die knapp einhundert Fotos, die ihm zur Inspiration von seinem Auftraggeber zugesendet worden waren (der Fels aus allen möglichen Perspektiven und Winkeln, verschiedenen Brennweiten, zu jeder Tages- und Nachtzeit, sogar als Drohnenaufnahme aus der Luft), Stunden über Stunden angesehen. Aber da gab es nichts, was an ihm haften geblieben war, und je mehr er sich in die fremden Berichte einlas, desto weiter entfernte er sich von dem zu beschreibenden Objekt. Kurze Zeit später musste er eingeschlafen sein, dann war da nur noch das Nachflimmern des Traums, an dem alles (dem Traum? dem Felsen?) farblos und künstlich war. Unecht.

Er kniff die Augen ein paar Mal fest zusammen und öffnete sie wieder, und nach jeder Phase tiefster Schwärze wurde der in Dunkelheit liegende Raum ihm ein bisschen wirklicher, als würde Bild um Bild durch einen Diaprojektor geschoben.
Klack.
Da war der mit unzähligen ausgedruckten Reiseberichten und -impressionen, Ansichtskarten und Urlaubsfotos überhäufte Schreibtisch, auf den er seinen Kopf zum Nachdenken abgelegt hatte, die Arme vor ihm verschränkt wie zur Schutzhaltung. Daneben stand der aufgeklappte Laptop, das geöffnete Schreibprogramm zeigte eine weiße, unbeschriebene Seite und war die einzige Lichtquelle in der Wohnung.
Klack.
Hinter dem Fenster der nach Norden ausgerichtete Balkon und die dort aufgespannte Wäsche, die er vor dem angekündigten Gewitter hatte reinstellen wollen und die bereits ein wenig feucht war vom Regen. Dahinter der Innenhof seines zehnstöckigen Wohnkomplexes und die Aussicht auf den grau-bedeckten Himmel.
Klack.
Da waren – mehr Geräusch als Bild, aber auch das jetzt klarer und schärfer – die auf der fernen Bundesstraße fahrenden Autos und ihr vertrautes Rauschen, durch die nasse Fahrbahn und den aufkommenden Wind Martin nun viel näher erscheinend.
Klack.
Da war jetzt auch wieder die Felsformation, die er versucht hatte zu vergessen. Manche der von ihm beschriebenen Orte waren ihm nach der Zeit, die er sich mit ihnen beschäftigt hatte, so wirklich geworden, sein Bericht so real, dass er im Gefühl zu Bett ging, tatsächlich dort gewesen zu sein. Es kam dann vor, dass er von ihnen träumte, aber immer wusste er, dass es sich dabei um einen Traum handelte; beide Ebenen war voneinander getrennt. Jetzt erschien ihm der Felsen weder im Traum noch in der Wirklichkeit „echt“; eher wie eine fremde Erinnerung, die sich ihm aufdrängte. (Konnten sich denn auch Traumbilder im Wachzustand irgendwann festbrennen? Und würde er ein solches Traumbild erkennen?)
Klack.

Mit schweren Beinen erhob Martin sich von seinem Stuhl und ging in die Küche. Was er dort zu schaffen hatte, wusste er nicht. Hunger hatte er keinen, aber er musste aufstehen und sich bewegen, um wieder wach zu werden, und seien es nur die vier Schritte bis zur Küchentür. (Er hatte es ausgemessen: es waren vier bis an die Schwelle, fünf bis zum Kühlschrank und fünfeinhalb bis zum Herd; so weit ging er jedoch selten). Hier fiel sein Blick als erstes auf die Uhr der Mikrowelle: Es war kurz nach neun, aber sein Zeitgefühl sagte, dass es weit nach Mitternacht hätte sein müssen. Ob Die schönsten Bahnstrecken Deutschlands später im Fernsehen lief? Wahrscheinlich hatte man die Sendung längst abgesetzt und lediglich die beliebtesten Fahrten auf YouTube oder in der Mediathek der Öffentlich-Rechtlichen in einer Art Best-of-Kollektion verfügbar gemacht. Immer auf Abruf, könne man dabei vor- und zurückspulen, die Zugfahrt verkürzen oder in die Länge ziehen, sich die schönsten Abschnitte (gab es auch nicht so schöne Abschnitte auf den schönsten Bahnstrecken?) immer wieder ansehen, bis man sie auswendig kannte. Die Fahrt von Hamburg nach Rostock würde dadurch ebenso lang wie die Kurzstrecke Naumburg – Jena, und jeder verpasste Name auf den Schildern des passierten Bahnhofs ließe sich mit einem Klick zurück in die Gegenwart holen. Jetzt erinnerte sich Martin, dass sein damaliger Freund einige Sendungen sogar auf VHS-Kassetten aufgenommen hatte. War es, weil er manche Folgen nicht live hatte sehen können? Oder brauchte er die Aufnahme, um auf der Fahrt vor- und zurückzuspringen? Wäre er, Martin, auch jemand gewesen, der vorgespult und einen langweiligen Streckenabschnitt auf diese Weise verkürzt hätte?

Der Anblick der Küche, als er das Licht einschaltete, jagte diese Gedanken davon. Einen Lampenschirm hatte er nach über einem Jahr nach seinem Umzug noch immer nicht gekauft, die Glühbirne hing nackt und ungeschützt an ihrem langen schwarzen Kabel von der Decke. Auf dem weißen IKEA-Küchentisch zeigten sich überall Flecken und Abdrücke von Kaffeetassen (auch das Nachbilder?) in Form von gelb-braunen Halb- und Vollmonden, Aluschalen mit Asiatischem und mehrere gestapelte, vermutlich leere Pizzakartons. Als er sich der Spüle näherte, fand er dort schwarze, verhärtete Klumpen Kaffeepulver, Teller mit eingetrocknetem Essen – der Farbe nach zu urteilen früher einmal mit einer Tomatensauce verwandt – und dreckiges Einwegbesteck. Von irgendwoher drängte der Geruch getrockneter Kräuter wie aus einem Herbarium, und Martin erinnerte sich erst jetzt an die völlig verdorrte Basilikumpflanze, die mit ihren blassen und runzligen Blättern allein auf der Fensterbank stand. Tatsächlich gab es kein Fenster in der Küche, die Bank war lediglich ein schmaler, an der Wand befestigter Querbalken aus Holz, eigens von ihm für die Töpfe seines geplanten Kräutergartens angebracht. Einen solchen Garten wollte er anfangs auf seinem Balkon pflegen und ausbauen, wollte Koriander, Thymian und Schnittlauch nebeneinander wachsen lassen und damit die selbstgekochten Gerichte geschmacklich und optisch verfeinern. Es war ihm jedoch zu spät aufgegangen, dass auf seinen nach Norden ausgerichteten Balkon keine Sonne fiel, sodass er die Kräuter ins Innere seiner Wohnung verlegt hatte, wo er sie zudem nicht so leicht aus den Augen verlieren und häufiger würde bewässern können. Doch nach den ersten Tagen, an denen er gewissenhaft immer wieder Erdfeuchte und Keimbefall geprüft hatte, war ihm die Lust an den Kräutern vergangen, und eine Pflanze nach der anderen wurde mit der Zeit welk und wanderte in den Müll. Das Basilikum war das letzte Überbleibsel seiner gärtnerischen Bestrebungen. Sollte er es ebenfalls entsorgen? (Und wie oft hatte er schon davorgestanden und sich diese Frage gestellt?) Er entschied sich dagegen, ob erneut oder zum ersten Mal, darauf kam es nicht an. Sein Projekt durfte nicht endgültig scheitern, die Unklarheit nicht zur Gewissheit werden. Lieber behielt er sich diesen Rest vager Hoffnung auf Veränderung, möge sie zur rechten Zeit eintreten. Er ließ Leitungswasser in eine Kaffeetasse laufen, schüttete es mit einem Schwung in den Topf, dass es an den Rändern überlief, und zupfte ein paar hellgraue Blätter von den Stängeln. Sie knirschten bei der Berührung und zerbröselten sofort zwischen seinen Fingern.

Um für ein wenig Ordnung zu sorgen, kratzte er die Nudelreste mit einer Plastikgabel aus den Aluschalen in den Mülleimer und schmiss die Pizzakartons in die Ecke zum Altpapier. Im Kühlschrank fand er zwei Packungen Mozzarella, dick und aufgequollen, abgelaufen im Juni diesen Jahres, die er ebenfalls wegwarf. (Auch das war eine Idee von ihm gewesen: Tomate-Mozzarella mit frischem Basilikum und Balsamico-Essig; die unangebrochene Flasche fand er ebenfalls im Kühlschrank, belaß sie aber dort.) Morgen würde er alles runtertragen und in die Container im Hof schmeißen. Da fiel ihm der vor einigen Wochen im Treppenhaus aufgehängte Entsorgungskalender ein, und die Befürchtung war groß, einen erneuten Konflikt mit seinen Nachbarn zu riskieren, die in häuslichen Angelegenheiten äußerst starrsinnig sein konnten. Neulich hatte man ihn auf dem Treppenabsatz abgefangen, da er seinen Restmüll, kurz nachdem die Tonne von der städtischen Müllabfuhr entleert worden war, in den Container geworfen hatte. Der Hausmeister, oder ein Mann mit einem solchen Gebaren, kam sogleich aus seiner Wohnung getreten und machte ihm ohne Umschweife klar, dass bei derartigen Verstößen Bußgelder fällen wären. Martin entschuldigte sich und versprach, dass er das nächste Mal auf den Kalender achtgeben würde. Damit war der Sachverhalt für den vermeintlichen Hausmeister allerdings noch nicht geklärt, und beide redeten so aufeinander ein, dass sie die Stimme des anderen im stark hallenden Treppenhaus kaum auseinanderhalten konnten. Als der Mann wieder in seiner Wohnung verschwand, offensichtlich zufrieden über den Ausgang des Gesprächs, hörte Martin dessen Stimme noch nach, und er fragte sich, ob beide nicht letztendlich nur mit sich selbst geredet hatten.

Ohnehin waren viele Bewohner der Siedlung nicht gut auf ihn zu sprechen. Das lag nicht zuletzt daran, dass er sich als neu Zugezogener bislang bei niemandem persönlich vorgestellt hatte. Als junger Mann Ende 20 wäre dies, so glaubte er, seine Pflicht gewesen, und insbesondere den Alteingesessenen kam sein Fernbleiben einer sozialen Ächtung gleich, für die sie sich scheinbar zu revanchieren suchten. Mit einer älteren Dame, ein paar Stockwerke über ihm, war er so einmal in heftigen Streit geraten. Martin hatte nämlich, als die „Kehrwoche“ auf ihn gefallen war, eine rumänische Putzfrau engagiert, die er mit fünf Euro die Stunde bezahlte und die das gesamte Treppenhaus sowie alle Stufen, Absätze und sogar das Geländer in den zehn Stockwerken an einem Nachmittag reinigte. Für ihn war die Sache damit erledigt, doch am nächsten Tag stand die Dame aus der oberen Etage vor seiner Tür, und Martin musste sich unter lauten Vorwürfen und Anfeindungen rechtfertigen, nicht selber gekehrt zu haben. Sein Argument, dass es dem Treppenhaus nicht darauf ankäme, wer es putzt, wurde als unverschämt abgetan, und man würde sehr genau darauf achten, dass er beim nächsten Mal selber den Besen schwinge. Er glaubte, dass auch die anderen Bewohner seine Aktion nicht befürworteten, da sie ihn im Haus zwar erkannten, jedoch nie grüßten. So wurde er in der Nachbarschaft zu einer geduldeten, aber keineswegs willkommenen Person, was ihm jedoch nur recht sein konnte. Er verließ die Wohnung so gut wie nie, arbeitete stets von zu Hause, sogar seine Einkäufe erledigte er ausschließlich per Internet und Lieferdienst. Jeden Montag wurde ihm eine Wochenration an Nahrungsmitteln geliefert, über Amazon hatte er ein entsprechendes Spar-Abo eingerichtet. Das meiste davon waren Konserven: Nudeln mit Fleischbällchen, Gemüseeintöpfe, Kartoffelsuppen, Rinderrouladen. Auch Thai-Curry hatte er probiert, fand es jedoch fad und ließ es sich stattdessen vom örtlichen Restaurant liefern, bei dem er eine echte „Thai-Schärfe“ erwarten durfte. Die Fahrer sprachen ihn mittlerweile mit Vornamen an, und Martin gab ihnen jedes Mal ein großzügiges Trinkgeld dafür, dass sie die sieben Stockwerke ohne Aufzug hinaufsteigen mussten. Anlässe, aus der Wohnung zu gehen, gab es für ihn also nicht. Die Haare rasierte er sich einmal im Monat selbst, von Arztbesuchen sah er ab, so gut er konnte. Es war ein einfaches, genügsames Einsiedlerleben, das er für sich eingerichtet hatte, seinen Bedürfnissen entsprechend und vom Tagesablauf vorhersehbar.

Er entschloss sich, die Müllsäcke heute Nacht herunterzubringen, „im Schutz der Dunkelheit“, wie man so sagt. Dies gäbe seiner Handlung etwas Verbotenes und wäre seiner Rolle als Verstoßener nur gerecht, dachte er, schaltete das Licht in der Küche aus und ging die viereinhalb Schritte zurück ins Wohnzimmer. (Er hatte einen Ausfallschritt gemacht und den Weg vom Kühlschrank so minimal verkürzt.) Den Regen hörte er da schon heftiger niederprasseln und sah die Wäsche auf dem Balkon völlig durchnässt. Das Gewitter musste nähergekommen sein, war vielleicht direkt über der Stadt. Er würde die Wäsche reinholen, sie auf der Heizung trocknen und dann einen neuen Versuch starten, den El Capitan zu erklimmen, auch wenn es ihm vor dem Felsen graute. Aber die dicken, schweren Tropfen, die im festgelegten Unrhythmus ihrer Bewegungen gegen die Scheibe klatschten, ließen ihn an Ort und Stelle verharren, und er schloss die Augen, um sie besser hören zu können. Es war ihm ein beruhigendes Geräusch (er dachte eher an einen Sound als an ein Geräusch), insbesondere durch die Unregelmäßigkeit ihres Aufpralls. Zum Arbeiten hatte er sich früher Regenaufnahmen anhören wollen, da sie in der Art eines weißen Rauschens die Konzentration erhöhen sollten. Doch im Gegenteil sorgte die Tonaufnahme dafür, dass Martin bei diesen Gelegenheiten auf nichts anderes als den Niederschlag achtete. Er versuchte Abfolgen und Ordnungen in dem vermeintlichen Durcheinander der Tropfen zu erkennen, Regelmäßigkeiten, die man eingebaut hatte und die eine Natürlichkeit nur vortäuschten. Immer wartete er auf die Stelle, an der die Aufnahme geschnitten war, in der der Loop einsetzte und die Schleife von vorne begann, und hatte er sie einmal gefunden, machte das Wissen um die Künstlichkeit ihn rasend. Jetzt hingegen konnte er am Fenster stehen und in den Zufall hören. Da schnitt in das wohlige Rauschen plötzlich ein scharfer, stechender Ton (kein Sound) hinein, dem er sofort seine volle Aufmerksamkeit widmete.

Nach oben scrollen