Die Säumige

Die Säumige lebt für verpasste Augenblicke und Momente, und je bedeutsamer das Ereignis, desto erhabener fühlt sie sich dabei. Im Kleinen sind es Zugbindungen und Termine, die sie verstreichen lässt, Busse zu ihrer Arbeit, die im Minutentakt an ihr vorbeirauschen oder eine Theatervorstellung, bei der sie nicht erscheint, auf die sie sich aber seit Monaten gefreut hatte. Von ihr nicht miterlebte Naturschauspiele sind für sie besonders kräftigend, sodass sie eine totale Sonnenfinsternis für einen Mittagsschlaf nutzt oder eine Agave in ihrem Garten kurz vor dem Aufblühen in den Keller stellt. Sollte die Säumige jemals schwanger werden, würde sie versuchen, auch die Geburt ihres eigenen Kindes zu verpassen, zu spät im Kreißsaal erscheinen und sich im Nachhinein davon erzählen lassen. Erst an der Grenze zum Möglichen, an ihrer äußersten Peripherie, beginnt für sie das wahre Leben, sodass sie andauernd in Was-wäre-wenn-Gedanken schwelgt und das Unvollendete verehrt. Auch für andere wünscht sie sich diese Versäumniserfahrungen, und wenn jemand behauptet, er hätte einen schönen Abend verbracht, möchte sie sofort wissen, was derjenige dadurch verpasst habe. War es nichts, bricht sie den Kontakt mit der Person unverzüglich ab, denn die Unsäumigen sind für sie bloß halbe Menschen.

Selbst entgangene Bekannt- oder Ortschaften sind für die Säumige Gelegenheiten, sich daran zu erbauen. War jemand im Urlaub und lobt Land und Völker in den höchsten Tönen, fährt sie ins Nachbarland und bleibt auf ihrer Reise immer so nah an der Grenze, dass sie mit einem Schritt schon auf der anderen Seite wäre. Die von ihr besuchten Gegenden dürfen nur die Ränder der fremden Erzählung streifen, nie darüber hinaus gelangen und in ihr Zentrum hineinwirken. Ist sie wieder in der Heimat, berichtet sie ausschließlich von den Dingen, die sie beinahe erlebt hätte: Fast wäre sie auf der Fahrt durch eine Wüste ohne Wasser und Benzin gestrandet, aber der nächste Ort tauchte da schon am Horizont auf, noch bevor die Warnleuchte aufblinkte oder ihr Vorrat zur Neige ging. Bei einem Ausflug ins Stadtzentrum hätte sie fast eine berühmte Persönlichkeit getroffen, wenn sie nicht stets in die entgegengesetzte Richtung gelaufen wäre, um ihr aus dem Weg zu gehen. Und bei der Suche nach einer Sehenswürdigkeit, einem Monumentalbau, den sie um alles in der Welt sehen wollte, fuhr sie immer haarscharf daran vorbei, dass sie soeben die Konturen aus dem Augenwinkel erkannte, aber nie wusste, ob es sich wirklich um das gesuchte Gebäude handelte oder um etwas ganz und gar Profanes wie eine Hausfassade, die ihr völlig egal sein konnte.

Trifft die Säumige sich mit Männern, fasziniert sie am ehesten deren ungenutztes oder bislang noch nicht realisiertes Potential: Einer arbeitet als Wissenschaftler und ist kurz davor, seine Ergebnisse, die als maßgeblich in seinem Forschungsbereich gelten könnten, zu publizieren. Ein Musiker steht vor dem Durchbruch und unterschreibt in der kommenden Woche seinen ersten Plattenvertrag. Der Kletterer, der hunderte von Versuchen auf einer komplizierten Route hinter sich hat, scheitert nunmehr knapp vor dem Ziel, und es ist zu erwarten, dass er es bald erreicht. Doch sobald die Säumige von einem Erfolg hört, nimmt sie Abstand, will nichts mehr wissen von Preisen, Verträgen oder absolvierten Klettersteigen, und stellt sich vor, was diese Männer alles hätten vollbringen können, ob in ihrem Fachgebiet oder einem anderen.

So lebt sie diese zweite Realität wie keine andere, geprägt von Möglichkeiten und Unklarheiten, von Dingen, die verpasst wurden oder ihr entgangen sind, ob bewusst oder nicht. Erst im hohen Alter, am Ende ihres Lebens, wird sie an all diese Augenblicke und Momente zurückdenken, und sollte sich dann auch nur ein Gran Reue hineinmischen, schiebt sie schließlich auch ihren eigenen Tod beiseite, versäumt ihre Beerdigung und lebt ein zweites Leben, dieses Mal in der Wirklichkeitsform.

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